Malerei

17.05.2025 - 15.06.2025

Eröffnung: 17.05.2025 um 17:00 Uhr
Galerie im Theater an der Ilmenau
Greyerstraße 3, 29525 Uelzen

Öffnungszeiten

Samstag 15 – 18 Uhr Sonntag 11 – 13 Uhr und 15 - 18 Uhr; Besuch von Gruppen nach Absprache mit der 2. Vorsitzenden des KVU Renate Schmidt, Tel. 0581-76675 oder 0170-332 50 29
Iskin_Iskin_Astro / 150x120cm / Öl auf Leinwand / 2023
Iskin_Astro / 150x120cm / Öl auf Leinwand / 2023

Zwischen Magie und Assoziation

Zur Ausstellung „All“ von Alexander Iskin im Kunstverein /Vernissage Samstag, 17. Mai 2025, 17 Uhr im Theaterkeller

„Gefühl ist alles, Name Schall und Rauch“, antwortet Faust seinem Gretchen, als die ihn nach der Religion, also einem eher nicht fassbaren Ding, befragt. Eine Art „Gretchenfrage“ ist auch Alexander Iskins Kunst: „Wo faß` ich dich, unendliche Natur?“ muss man sich fragen. Scheint sich der Maler zu fragen. Weil die Bilder als Assoziationen nicht zu greifen sind, weil sie den Kosmos bilden aus multiplem Wechselspiel von Fantasie, Mutation und Transformation, in dem sich der Künstler bewegt. Und so heißt die Ausstellung im Kunstverein folgerichtig: „All“.  Ein Wort, das so umfassend ist wie das Universum (der Kunst).

Alexander Iskin, im Jahr 1990 in Moskau geboren, kann zu jedem Bild etwas erzählen. Manchmal sind diese Geschichten klare Erlebnisse, wie beispielsweise die Begegnung mit dem Wasserfall in einem slowenischen Nationalpark („Himmelstau“). Meist jedoch schlingern die Erzählungen, steigen immer tiefer hinab in eine Recherche, die Neues, Unbekanntes zutage förderte. So etwa bei „Lobster Legend“, das Märchen, in dem der König dieser Krustentiere das Turtle Island, die Insel der Schildkröten, auf deren Rücken die Welt ruht, unterjocht, kolonialisiert. „Das hat mich traurig gemacht“, sagt Iskin dazu. Und in diesem Augenblick ist er ein kleiner, ganz verletzlicher Junge.

Seine Bilder nennt der Maler Interrealismus. Sie sollen sich also zwischen den Realitäten bewegen. Sind sie Träume? Visionen? Wünsche? Wer wüsste es schon. Sie entstehen im Prozess, sagt Iskin, nicht aus einer Konzeption. Aber: „In der Malerei komme ich auf Ideen.“ Um das, was ein wenig verworren klingt, an einem Beispiel zu demonstrieren: Die Geschichte vom Lobsterkönig und den Schildkröten gebar als Bild zusätzlich das Wissen um das schwere Leben der kleinen sympathischen Wesen mit dem Panzer, die zwischen Wasser und Land pendeln. Und daraus folgte die Initiative, in diesem Sommer ein Volontariat in einem Schildkröteninstitut in Mexiko zu absolvieren. Zusätzlich entsteht ein Buch dazu, ein paar Kapitel gibt es schon… Alexander Iskin strahlt, wenn er davon erzählt: „Vielleicht ist das ein Beispiel, wie Interrealismus funktionieren kann; wie Ideen aus der Malerei in die Wirklichkeit kommen können.“

Der 35-Jährige hat Mathematik und Philosophie studiert, später Bildende Kunst. „Ich habe kein Studium abgeschlossen“, bekennt er, „ich habe studiert aus Interesse.“. Als die erste Ausstellung anstand, brach er auch das Kunststudium ab. Er scheint hin und her gerissen zwischen seinem Faustschen Drang „zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“ und der Erkenntnis, um bei Goethe zu bleiben, „daß wir nichts wissen können“. Obwohl wir das glauben. Jedenfalls redet Iskin genauso eloquent über Quantenphysik wie über Musik (er spielt Cello). Er war ein talentierter Tischtennisspieler mit Ambitionen auf höhere Ligen, aber diese Blase war ihm zu klein, gibt er zu. Es war eher ein Wunsch seines Vaters, der Mathematiker ist; die Mutter studierte am Konservatorium Moskau, ist Geigerin. Im Jahr 1992 kam die Familie nach Deutschland.

Klingt das nach Entwurzelung? Ich frage Alexander Iskin danach. „Am wohlsten fühle ich mich im Flugzeug“, antwortet er. „Wurzeln? Vielleicht kommt`s noch?“ Er hat in zahllosen Orten der Welt gearbeitet, er ist ein Getriebener. Er hat einen Film über die Berliner Subkultur gedreht und schreibt Novellen (auf diesem Begriff besteht er). Warum ausgerechnet Novellen, die Goethe als eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit” definierte. Die also eine Geschichte erzählen, die wirklich passiert sein soll, die außergewöhnlich oder ungewöhnlich oder sogar skandalös ist. Vielleicht erzählen die Bilder von Alexander Iskin auch solche Geschichten. Bestimmt sogar. Aber es sind für jeden Betrachter andere, das sei behauptet.

„Die Interpretation ist die Rache des Verstandes an der Kunst“, sagte die Publizistin Susan Sonntag. Versuch: In den großen Ölbildern Iskins bildet Geistiges und Emotionales eine Melange, die kaum zu beschreiben, nur zu empfinden ist. Es sind Fantasieschauspiele voller Fabulierkunst zwischen Wahrheit, Traum und Realität. Wahrheit ist zum Beispiel, dass der Maler eine besondere Affinität und Verbindung zu Wasser verspürt. Seine beiden Neptun-Arbeiten sind ein Beben im Raum-Zeit-Kontinuum. „Neptun I“ – freundlich mit viel Blau, das andere, „Neptun II“, erschreckt einen eher. Vielleicht klingt darin das Grollen des Meeresgottes über die unglaubliche Verschmutzung, die die Menschen den Weltmeeren antun und sie so zu Kloaken verkommen lassen, in denen Plastikteppiche ungeheuren Ausmaßes treiben. Kunst kann uns auch das Gleichgewicht verlieren lassen – bis wir einen neuen Schwerpunkt finden. Die Bilder „Neptun“ wären so eine Gelegenheit. Hat Alexander Iskin Angst davor, dass die Farbigkeit seiner Bilder nur Buntheit ist? Dass die Überfülle seiner Angebote an den Betrachter ins Leere kippt? Ich weiß es nicht. Vielleicht übt sein Interrealismus den Zusammenstoß zwischen falschem Schein und verborgenem Sein? Oder um noch einmal Goethe zu bemühen: Haben seine Bilder „die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit“? (Über den Landschaftsmaler Claude Corrain)

Es sind farbstarke Spektren, die Geschichten erzählen (wollen), die Großformate, die noch bis zum 15. Juni 2025 in der Galerie des Kunstvereins zu sehen sind. Die auch mit Begriffen spielen. Zum Beispiel der „Baum der Missgunst“. Missgunst heißt auf Spanisch „Envidia“ – genauso wie eine große Firma, die Chips für die KI produziert. Das Bild knallt mit viel Orange, über das man fast mühelos „Trump“ denkt, weil man auch eine Clownsmaske darauf auszumachen glaubt. Einen Zusammenhang zwischen allem stelle jetzt jeder für sich her. –

Dass der mehrfach Begabte Iskin auch Tiere liebt, offenbart sich nicht nur in dem Bild „Laika kehrt zurück“.  Die Hündin Laika wurde 1957 als erstes Lebewesen von der Sowjetunion ist All geschossen. Ein Propaganda- und Prestigeunternehmen. Dass das Tier nach wenigen Stunden qualvoll in der Raumkapsel an Überhitzung starb, kann jeden Tierfreund umtreiben. Solche Experimente waren immer unethisch. Dass Alexander Iskin von dem Schicksal des Hundes überhaupt weiß und ein Bild dazu malte, weil er Mitleid empfindet und sich vorstellen will, dass Laika vielleicht nach ihrer langen Odyssee zurückkehrte – das ist eine Verquickung, zu der vielleicht nur Künstler fähig sind. Es ist auf wunderbare Weise anrührend.

„Ich bewege mich in einem Kosmos“, sagt Alexander Iskin „darin kommt mir dann manchmal was entgegen, das für mich Bedeutung hat.“ So entsteht bei ihm eine Geschichte. Ob als Bild, als Novelle, als Film oder als Buch. „Wir Künstler sind ja Schwämme, wir saugen alles auf“, weiß er. Es ist dem sympathischen jungen Mann zu wünschen, dass der Kosmos, der ja ein sehr luftdünner Raum ist, ihn weiterträgt.

Barbara Kaiser – 15. Mai 2025

Werke

Guten Abend liebe Uelzenerinnen und Uelzener!
Frau Almke Matzker-Steiner und Frau Renate Schmidt vom Kunstverein haben mich gefragt, ob ich eine kleine Einführung in die Ausstellung von Alexander Iskin geben kann.

Mein Name ist Jan-Philipp Sexauer, Inhaber der Galerie SEXAUER in Berlin, und ich vertrete Alexander als Galerist. Vielleicht bin ich also nicht immer völlig neutral. Das hat aber auch einen Vorteil. Ich kenne die Entwicklung seines Werks und Alexander persönlich seit über 15 Jahren. Daher kann Ihnen einiges über die Werkentwicklung erzählen, vielleicht auch ein paar persönliche Eindrücke.

Vorab möchte ich dem Kunstverein danken und allen, die diese Ausstellung ermöglicht haben. Ohne sie stünden wir heute nicht hier.

Ich werde jetzt nicht auf einzelne Arbeiten der Ausstellung eingehen. Zum einen werden Sie die Bilder ja gleich selbst erkunden. Zum anderen sind einige Arbeiten extra für diese Ausstellung entstanden und ich kenne sie auch noch nicht im Detail. Sie sind heute Abend die Ersten, die sie sehen. Ich möchte Ihnen aber etwas über das Werk allgemein erzählen und so eine Tür für Sie öffnen zu den Bildern und, über die Bilder hinaus, in die künstlerische Welt von Alexander.

Alexander Iskin hat eine besondere Karriere, die heute für Malerinnen und Maler selten ist. Er hat nämlich nicht an einer Kunsthochschule studiert. Trotzdem hat er sich für die Kunst als Beruf entschieden. Bereits mit 23 Jahren hatte er seine erste Galerieausstellung und sechs Jahre später die erste Einzelausstellung in einem bekannten Museum, dem Mönchehaus Museum in Goslar. Ein solcher Werdegang ist selten. Wie kam das? Ich sagte ja, Alexander war nicht an einer Akademie. Aber dennoch hat er Kunst studiert. Sehr intensiv sogar. Denn der bekannte Künstler Jonathan Meese war ein früher Mentor und Alexander teilte über Jahre das Atelier mit einem begnadeten Berliner Maler, Herbert Volkmann. Das waren sozusagen seine Privatprofessoren. Und Alexander hat eine Eigenschaft, die gar nicht so häufig ist: Er sieht sehr genau hin, er hört sehr genau zu und er ist bereit, jederzeit und schnell zu lernen. Das eröffnete ihm die Möglichkeit, sich auf verschiedenen Feldern Fähigkeiten anzueignen und sie alle miteinander zu verbinden. Und so verwundert es auch nicht, dass vor kurzem in einem New Yorker Verlag auch ein Roman von ihm in englischer Sprache erschienen ist. Rabbits are strange, when you are a stranger. Ein Roman, nicht zuletzt über die Kraft der Kunst. Alexander hat ihn während und nach Arbeits-Aufenthalten in New York geschrieben.

Aber noch einmal zurück: 2014 haben wir gemeinsam die erste große Galerieausstellung mit Alexander gemacht. Das war auch eine der ersten Ausstellungen der Galerie. Und vielleicht verbindet dies Alexander und mich ein bisschen. Vor meiner Tätigkeit als Galerist war ich Rechtsanwalt und so sind wir beide auf nicht ganz typischen Wegen zu Berufen auf dem
Felde der Kunst gelangt. Die erste Ausstellung hieß Bastard Club. Bastard ist ein veraltetes Wort für Kreuzungen oder Hybride. Und tatsächlich zeigte Alexander eine Versammlung teils verstörender Mischwesen auf der Leinwand. Das ist ein
altes Thema. Drachen zum Beispiel, also Mischungen aus Reptil und Raubtier, gab es schon in sumerischen Schöpfungsmythen. Im Kampf mit dem Drachen, also dem Kampf gegen das Chaos, sah man einen Widerhall des Schöpfungsakts. Die Schaffung einer Ordnung aus dem Chaos.
Seit Jahrtausenden züchtet und kreuzt der Mensch Pflanzen und Tiere und schafft neue Lebewesen. Das ist aber auch ein ganz aktuelles Thema, denn mit Hilfe der Molekularbiologie kann der Mensch nun nicht mehr nur kreuzen, sondern selbst zum Schöpfer werden. Designer einer eigenen Welt.

Was hat das mit der Kunst von Alexander zu tun?
Eine ganze Menge. Denn was seit der ersten Ausstellung immer geblieben ist, sind die Wesen und Mischwesen und wesenhaften Formen und Gestalten in seinen meist abstrakten Bildern. Ich komme gleich darauf zurück.

Was Alexander auch immer interessiert hat, sind Zwischenwelten. Also nicht nur die Mischung von Wesen, sondern die Mischung von Realitäten. Interrealismus hat Alexander seine Kunst seit seiner zweiten Soloausstellung genannt. Damit meinte er letztlich die Welt, in der wir leben. Und das ist eben nicht mehr nur eine Wirklichkeit. Es ist eine Welt zwischen mehreren Wirklichkeiten. Eine Welt zwischen physischer und virtueller Realität. So sitzen wir zum Beispiel im Bus oder auch im Wohnzimmer und gleichzeitig in einer Welt, die uns der Bildschirm auf dem Smartphone eröffnet. Wir sitzen also gleichzeitig in zwei Realitäten, man könnte auch sagen in der Interrealität. Und gar nicht so selten bewegen wir uns sogar mehr in der virtuellen als in der realen Welt.

Für seine zweite Ausstellung REALITY EXPESS hat Alexander dann große bildschirmartige Ständer bauen lassen, die jeweils in zwei Flächen unterteiltwaren, wie zwei Bildschirme in einem großen Fernsehgerät. So hatten die Arbeiten einerseits etwas Filmisches, denn zwei Bilder sind die denkbar kürzeste Filmsequenz, und andererseits zeigten sie gleichzeitig zwei Welten. Und neben diesen verschiedenen Welten sind bis heute in den Bildern auch die Wesen geblieben, die man immer wieder entdecken kann. Sie sind viel abstrakter jetzt als in der ersten Ausstellung, aber immer noch häufig Mischwesen, oft mehrfach interpretierbar. Dabei ist es Alexander immer wichtig, dass er diese Wesen und Welten nicht einfach zeigt, sondern dass die Betrachterin oder der Betrachter eine aktive Rolle beim Schauen und Entdecken übernimmt. Dies erreicht Alexander durch einen hohen Grad der Abstraktion und durch eine Malerei, in der man nie sofort alles sieht, sondern mit jedem Mal Hinschauen ein bisschen mehr, und die jeder und jede persönlich interpretieren muss, weil sie nicht eindeutig ist. So entdeckt jeder Betrachter die Wesenheiten auf den Bildern in unterschiedlicher Reihenfolge. Und auch am selben Ort auf derselben Leinwand werden die
Betrachterinnen häufig Unterschiedliches erblicken. Und so werden wir aus passiven Konsumenten der virtuellen Welt aktive Erbauerinnen, oder sagen wir besser Er-schauerinnen einer ganz eigenen Welt, der Welt von Iskin und unserer Welt. Und auch so entsteht zwischen Werk und Betrachtern eine Inter-Realität. Dementsprechend stand damals in der Ausstellung Reality Express auf den großen Bildschirmständern, eingestanzt wie ein Markenname: Interreality.

Das alles klingt jetzt ein bisschen philosophisch, nach Ästhetik und Phänomenologie, aber noch eines ist ebenfalls ganz wichtig bei Alexander: der Humor!

Schon in seiner ersten Ausstellung Bastard Club erinnerten die Drachen und Bastarde teilweise auch ein bisschen an Donald Duck. Iskin meint es ernst und dennoch wird vieles ironisch unterlaufen, versehen mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern. Das schließt sich nicht aus. Man kann auch ernste Botschaften freundlich überbringen.

Doch reisen wir weiter durch Iskins Welt: Seine dritte Ausstellung bei SEXAUER hieß Apple Sauce in Paradise. In diesem Titel steckte schon alles, wovon ich gerade sprach: Der Schöpfungsmythos (Paradise), das Digitale (Apple) und der Humor (Apple Sauce in Paradise). In dieser Ausstellung radikalisierte Alexander seinen Ansatz, gemalte Ölbilder mit der virtuellen Welt kurzzuschließen, und ließ Gehäuse von Apples iMacs nachbauen, in die er dann seine Gemälde montierte. So enstand ein iMac mit einem Gemäldebildschirm. In dem legendären Restaurant Paris Bar in Berlin können sie einen solchen sehn. Bei der Eröffnung der Ausstellung zertrümmerte Alexander dann in einer Performance seinen Computer miteinem Baseballschläger und verschwand für einige Jahre aus den Sozialen Medien. Sie sehen, sein Zugang zur virtuellen Welt ist durchaus kritisch.

In seiner nächsten Ausstellung 2019 zeigte Alexander seine Iconic Turn Paintings. Das waren Drehbilder. Quadratische Bilder, die über einen Drehmechanismus an der Wand um 360 Grad gedreht werden konnten, so dass man ein Bild von allen Seiten, also auch Kopfüber sehen konnte. Wobei die Bilder eben kein Oben und Unten haben, sondern alle Seiten als
Oben, Unten und im 90-Grad-Winkel gedreht, bildnerisch funktionieren. Diese Bilder sind zum einen ein ironischer Verweis auf Smartphones, auf denen wir Bilder hin und her wischen, um immer wieder ein neues zu sehen, und zum anderen auf die Bilder, die sich auf dem Bildschirm drehen,
wenn man das Smartphone bewegt. Diese Iconic Turn Paintings zeigten aber außerdem, dass in jedem Bild mehrere Bilder stecken können, je nach Kontext bzw. Ausrichtung, in jeder Realität mehrere Realitäten. Und dies verstärkte wiederum eine Eigenschaft, welche die Bilder von Alexander
ohnehin schon haben: nämlich auf verschiedene Arten lesbar zu sein.

Und hier ein kleiner Einschub: Dass die Wirklichkeit unterschiedlich interpretierbar ist und dass es verschiedene Wirklichkeitsebenen gibt, ist ein Freiheitsgewinn. Es bedeutet aber nicht, dass es überhaupt keine gemeinsame Grundlage, dass es keine Tatsachen mehr gäbe. Um im Bilde zu bleiben: Um ein Bild zu interpretieren, kann man sich durchaus darüber
einigen, welches Bild man betrachtet, vielleicht kann man es auch drehen, und es gibt Verschiedenes zu sehen und unterschiedliche Interpretationen und Sichtweisen. Das ist Freiheit. Aber es gibt immer noch eine Tatsachengrundlage: das Bild. Interrealismus hat also nichts mit Beliebigkeit oder der Leugnung von Tatsachen zu tun, sondern mit Freiheit.
Einschub Ende.

Dann kam Corona. Wir waren isoliert. Und was machte Alexander? Er öffnete wieder eine Tür und zog in den Ausstellungsraum der Galerie, machte diesen zu seinem Atelier, und bereitete dort seine erste Museumsausstellung vor. Dabei konnte man ihn ununterbrochen im Internet – und also weltweit – bei der Arbeit beobachten. Im Ausstellungsraum waren mehrere Kameras aufgebaut. So verband Alexander die virtuelle Welt der schnellen Bilder mit der langsamen Welt
der Malerei. Denn Malerei braucht Zeit. Zeit für die Produktion und Zeit fürs Betrachten.

Wenn Bilder von Alexander in der Galerie hängen und ich das Privileg habe, sie jeden Tag zu sehen (wie Sie jetzt hier in Uelzen), entdecke ich – nach vielen Wochen noch – immer wieder neue Aspekte, immer wieder neue Wesen. Dabei schafft es Alexander, den Grad der Abstraktion soauszutarieren, dass man eindeutig etwas entdecken kann, wenn man – wie mit einem Kameraobjektiv – fokussiert, aber bei einer Gesamtbetrachtung das Bild wieder gegenstandslos wird. Fokussiert man, werden die Wesen wirklich, außerhalb des Fokus verschwinden sie. Vielleicht in die Interrealität. Das ist eine Qualität, die erkenntnistheoretisch interessant ist, aber vor allem dafür sorgt, dass die Bilder nie langweilig werden.

Vor seiner sechsten Ausstellung bei SEXAUER im Jahr 2022 schrieb Alexander dann erstmal einen Roman. Da ging es um die Manipulation von Jugendlichen durch große Digitalfirmen. In der Ausstellung war der Hallenboden weiß und mit Zitaten aus dem Roman bedruckt. An den Wänden ganz wenige Bilder, Portraits, Figuren aus dem Roman. Es kam dann nicht zu einer Veröffentlichung des Buchs in Deutschland. Aber ich sagte ja, Alexander ist lernwillig. In New York, wo Alexander ein Stipendium der Pollock-Krasner-Foundation hatte, schrieb er das Buch auf englisch neu und um. Den bereits erwähnten Roman Rabbits are strange, when you are a stranger. Und die Zeichnungen, die hier im Treppenhaus hängen, sind Illustrationen aus diesem Buch. Ausnahmsweise und anders als die Ölbilder sind sie weitgehend figurativ. Auch im Buch geht es um die Themen, die Alexander immer wieder umtreiben. In wie vielen Wirklichkeiten leben wie? Wie werden wir durch die virtuelle Welt manipuliert. Wie können wir uns aus der Manipulation und der Passivität retten? Wie können wir uns verwandeln? Die Kunst kann ein Weg dabei sein. Indem wir nicht passiv konsumieren, sondern aktiv schauen und uns darüber austauschen. So wie wir heute Abend.

Ein weiteres Projekt von Alexander, das ich kurz erwähnen möchte: Die Professorin Kaffeemaschine. Die Professorin Kaffeemaschine ist eine fahrende Roboterin, die ein wenig
aussieht, wie ein Wesen aus den Bildern von Alexander. Die Professorin wird mit künstlicher Intelligenz gesteuert und kann Kunst erkennen. Sie kann über die Kunst, die sie erkennt, sprechen und Kaffee kochen kann sie auch, denn sie ist ja eine Kaffeemaschine. Auch hier interessiert Alexander wieder die Frage. Was sehen wir eigentlich in einem Bild? Und was sieht
eine künstliche Intelligenz? Sind das verschiedene Welten und
Wirklichkeiten? Was liegt zwischen dem Bild und uns? Und natürlich stellt Alexander diese Fragen nicht ohne Humor: Die Professorin soll Bilder in Zukunft nämlich auch bewerten und benoten können wie eine richtige Professorin und mit je mehr Kaffeebohnen sie gefüllt ist, desto positiver wird ihr Urteil ausfallen. Ganz wie in der Realität: Haben wir gute Laune,
betrachten wir die Welt positiver. Die Professorin ist noch nicht so weitprogrammiert, dass sie Noten geben kann. Über Kunst sprechen kann sie aber schon.
Leider haben wir heute nicht die Zeit, aus dem Roman zu lesen, und einen iPaint – so nannte Alexander die Bilder in den iMac-Gehäusen – konnten wir leider nicht ausleihen. Auch die Professorin Kaffeemaschine hatte zu wenig Kaffee und heute Abend keine Kraft zu kommen, aber ich habe Ihnen trotzdem von all diesen Projekten erzählt, weil ich glaube, dass all diese Projekte und Welten in den Bildern von Alexander ihren Niederschlag finden und dass man sie in den Bildern erkennen kann:
Die Wesen, die jeder anders sieht, die verschiedenen Räume in den Bildern, die verschiedenen Wirklichkeiten, unterschiedliche Bildebenen.

Nehmen Sie sich Zeit, die Bilder zu betrachten, werden Sie selbst zur Erschafferin oder zum Schöpfer Ihrer eigenen Welt in Iskins Bildern. Tauchen Sie ein in die Interrealität und vor allem: haben Sie Spaß dabei!

Und noch ein letztes: Warum heißt die Ausstellung überhaupt all ? – Ich denke, weil es die erste Retrospektive von Alexander ist, die Bilder aus verschiedenen Zeiten und damit aus verschiedenen Wirklichkeiten zusammenführt. Und ein bisschen steckt im Titel wahrscheinlich auch das deutsche Wort ALL, wie Weltall. Denn manchmal muss man nach den
Sternen greifen, und bisweilen muss man in den Himmel schauen, um die Wirklichkeit auf der Erde zu verstehen und auch alles, was dazwischen liegt. Interreality!

Jan-Philipp Sexauer

Bilder der Eröffnung